13/4/2024
Kultur im Wirtshaus
Editorial
Quo vadis, Wirtshaus? Ein Gedankenmenü in 12 Gängen
Im Rahmen des Wirtshauslabors fragt die Kulturhauptstadt Europas 2024 nach Zukunftsszenarien für diese gastronomische Institution.
Text:
Martha Miklin II friendship.is

Das Wirtshaus war immer schon mehr als nur ein Ort des Essens und Trinkens. Es ist eine gesellschaftliche Institution, eine wichtige gastronomische Gattung, ein Treffpunkt für alle, von der PR-Managerin bis zum Mechaniker-Lehrling, ein Ort mit Wirtin und/oder Wirt, die weitaus mehr sind als Dienstleister*innen. Kurz: Das Wirtshaus ist und war ein sozialer Ort. Und so tief das menschliche Bedürfnis nach Gesellschaft in unseren Systemen verankert ist, so verliert das Wirtshaus, pauschal gesprochen, dennoch an Gästen. Das Wirtshaussterben sei angeblich voll im Gange. Und es stellt sich nicht nur die Frage nach dem Warum, sondern auch die nach dem, was getan werden kann.

Als Gründe für das Schwinden der Wirtshäuser werden neben dem Mangel an willigen und ausgebildeten Arbeitskräften und einer gastronomisch hyperaktiven Vereinskultur auch Inflation und Landflucht genannt, selbstverständlich unter vielen anderen. Nach diesen Gründen darf und soll man fragen, denn als Spiegel der Gesellschaft, wie das Wirtshaus ebenso oft bezeichnet wird, ist diese charakterstarke gastronomische Gattung kein isoliertes Element, sondern ein durch und durch kontextabhängiges. Anders ausgedrückt: Was in der Welt passiert, wirkt sich auch auf das Wirtshaus aus. „Das Große spiegelt sich im Kleinen, das ist Dialektik“, hat die Hip-Hop-Band Freundeskreis 1999 getextet.

Und natürlich geht’s nicht allen Exemplaren dieser Gattung schlecht. Ganz im Gegenteil, viele florieren lebendig und beständig. Da mal reinzuschauen, könnte inspirieren. Aber nicht hier und jetzt.

Hier und jetzt geht es um Gedankenexperimente, basierend auf der Frage: Was kann das Wirtshaus sein? Welche zeitgeistigen Bedürfnisse könnte es befriedigen, abseits von Essen und Trinken? Und was ist es in seiner Essenz?

(1) "No alarms and no surprises“
DAS WIRTSHAUS ALS VORHERSEHBARER ORT

Ein gewisses Bedürfnis nach Sicherheit ist auch den abenteuerlichsten Menschen eingeschrieben. In unsicheren Zeiten wie diesen sehnen sich viele mehr denn je nach Ruhe, Routine, Struktur. Nach Orten, die sich nicht ständig verändern, sondern ein Gefühl von Dauer, Stetigkeit und Halt vermitteln. Oder mit den Lyrics von Radiohead: „No alarms and no surprises, please“. Das Wirtshaus als unaufgeregter Ort im besten Sinn ist dafür prädestiniert, allein durch die vertrauten wirtshausigen Elemente wie Budel, Holzvertäfelung, Stammtisch und eine überschaubare Speisekarte, die natürlich Unerwartetes enthalten darf, aber auch die Klassiker zu bieten hat. Mit Betonung auf überschaubar, denn zu viel Auswahl führt zu „cognitive overload“. Und manchmal auch zum ziehenden Gefühl, sich falsch entschieden zuhaben. Denn die Entscheidung für etwas bedeutet gleichzeitig die Entscheidung gegen alles andere. Die berühmte Angst, etwas zu verpassen („Fear of missing out“ aka FOMO), ist da nicht weit. Zum Glück gibt es als Gegenbewegung auch die „Joy of missing out“ (aka JOMO). Vielleicht könnte man diese im Wirtshaus ein wenig kultivieren?

(2) Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein
DAS WIRTSHAUS ALS ORT OHNE INSZENIERUNGSZWANG

„Hier fragt dich keiner, wer du bist“, schrieb die FAZ anlässlich einer Ausstellung zur Wirtshauskultur. Vielleicht fragt dich im Wirtshaus auch keiner, was du tust. Vielleicht kann das Wirtshaus auch ein Ort sein, an dem man sich nicht besser darstellen muss, als man ist. Man muss nicht die beste Version seiner selbst sein, es reicht schon aus, gut genug zu sein. Vielleicht brauchen wir überhaupt eine Kultur der gelebten Mittelmäßigkeit, die den Superlativwahn eindämmt, der vor allem in der westlichen Welt grassiert. Schon Aristoteles hat das Mittelmaß als Tugend gelobt:weder zu viel noch zu wenig. Vielleicht muss man die Ansprüche an sich selbst etwas lockern, oder mit den Worten der Band Wanda: „Nix, was wir tun, wird je zur Legende werden. Wir san scho froh, wenn wir erst am Ende sterben“.

(3) Noch schnell auf ein Getränk
DAS WIRTSHAUS ALS NIEDERSCHWELLIGER ORT

Ein anderes Charakteristikum, mit dem das Wirtshaus weiterhin punkten könnte, ist seine Niederschwelligkeit. Man kann spontan aufkreuzen, um dann doch länger zu bleiben als geplant. Man muss in den meisten Fällen nicht reservieren. Und man kann auch allein hingehen und ein Getränk an der Budel bestellen, ohne bewertende Seitenblicke zu bekommen. In Zeiten durchgetakteter Kalender kann so ein Ort spontane Erlebnisse ermöglichen. Ganz ohne Planung und Vorbereitung, ganz ohne Reden-Müssen, aber mit Schweigen-Können.

(4) Auch Exzess muss sein
DAS WIRTSHAUS ALS ORT, AN DEM MAN SICH EIN BISSCHEN GEHEN LASSEN DARF

Das Leben ist anstrengend genug, oft bleibt der Spaß auf der Strecke. Der „Genussphilosoph“ Robert Pfaller spricht sich dagegen aus, „panischvernünftig“ zu sein und stattdessen „mit Vernunft“ unvernünftig zu sein, sprich: sich hin und wieder gehen zu lassen. Wenn man immer nur funktioniert, sein Bestes gibt und sich beim Versuch, alles richtig zu machen, selbst verliert, dann ist auch niemandem gedient. Der Mensch hat Triebe und ein Unterbewusstsein. Der Mensch braucht Ventile und Reibung, er muss manchmal ausufern und anecken, um wieder spüren zu können, wie es ist, im Lot zu sein. Eine Art kontrollierter, in der Frequenz nicht übertriebener Exzess kann Entlastung bringen. Was nicht bedeutet, dass das Wirtshaus zum Ort für den ritualisierten Vollrausch werden soll. Aber es kann ein Ort sein, an dem man ohne Schamgefühle den obersten Hosenknopf öffnet. An dem man seine Meinung sagt, auch wenn sie polarisiert. An dem man streitet und sich wieder versöhnt.

(5) Heute hier, morgen da
DAS MOBILE WIRTSHAUS

Eine andere Frage, die man in den Raum stellen kann, ist die, ob ein Wirtshaus überhaupt immer an einen Ort gebunden sein muss. Steigende Mieten und Energiepreise sowie Fachkräftemangel zwingen viele Gastronom*innen in die Knie. Ein Alternativmodell wäre, sich an unterschiedlichen Orten einzumieten, wo man davon ausgehen kann (zum Beispiel durch Voranmeldungen), dass genügend Gäste kommen. Leerstände könnten dafür ebenso genutzt werden. Oder man geht direkt zu Unternehmen oder Institutionen, die einen mobilen Mittagstisch wünschen. Ein Beispiel für ein solches Konzept ist „Tisch Zwölf – Essen für die Zukunft“ aus Vorarlberg, die mit ihrem (übrigens regionalen, saisonalen und biologischen) Mittagstisch mal hier, mal da sind.

(6) Heute Schnitzel, morgen Bühne
DAS WIRTSHAUS ALS WANDELBARER ORT

Diese Idee widerspricht nur vermeintlich der These des Wirtshauses als vorhersehbaren Ortes. Denn das Wirtshaus kann nach wie vor ein vertrauter Ort bleiben, auch wenn die Räume im Sinne der bestmöglichen „Sharing Economy“ hier und da zweckentfremdet werden: für Veranstaltungen, Ausstellungen, Workshops oder Ähnliches. Diese Andersnutzung wird auch im Rahmendes Wirtshauslabors während der Kulturhauptstadt 2024 praktiziert, wenn Wirtshäuser unteranderem temporär zu Theaterbühnen werden. Und wenn sich Schüler*innen der vor Ort ansässigen Tourismusschulen Gedanken darüber machen werden, was das Wirtshaus alles sein kann.

(7) „Kann ich anschreiben?“
DAS WIRTSHAUS ALS LEISTBARER ORT

Einer der Gründe für den Gästeschwund liegt sicherlich in den gestiegenen Lebenshaltungskosten. Wo kann man sparen? Beim Auswärtsessen. Aber im Wirtshaus sollte man, wenn man öfter kommt und dem Wirten oder der Wirtin nicht unbekannt ist, auch in Würde und natürlich in Maßen „anschreiben“ können. Es sollte leistbare Positionen auf der Karte geben, das berühmteste Beispiel ist wohl das „Jugendgetränk“. In Paris erleben die „Bouillons“ gerade eine Renaissance, jene Lowcost-Restaurants, die im 19. Jahrhundert Arbeiter*innen mit reichhaltigen Mittagssuppen versorgten: „Paris findet in Billiglokalen ein Rezept gegen die Inflation“, titelte der Standard. Bei alldem darf man natürlich nicht außer Acht lassen, dass die Gastronom*innen ja selbst von den Preissteigerungen betroffen sind, dass Lebensmittel, Miete und Personal teurer geworden sind. Und dass auch all das angesprochen werden muss.

(8) In guten wie in schlechten Zeiten
DAS WIRTSHAUS ALS ORT DER RITUALE

Geburt, Liebe und Tod: Immer schon hatte das Wirtshaus mit den wichtigsten Stationen im menschlichen Leben zu tun. Zumindest im Dorf, und dort oft im kirchlichen Kontext von Taufe, Hochzeit und Beerdigung, denn Rituale sind wichtig und verlieren dennoch an Bedeutung: „Rituale machen die Zeit begehbar wie ein Haus“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han in seinem 2021 erschienenen Buch „Vom Verschwinden der Rituale“. Aber auch im Kontext von banalem Anbandeln und Aufreißen oder dem „Saufengehen“ nach einer Trennung kann das Wirtshaus auffangen. „Der Floh“, ein Wirt im niederösterreichischen Langenlebarn, hat sogar ein „Scheidungsessen“ auf der Karte. Vielleicht ein potenzielles Ritual im Prozess von „Conscious Uncouplings“, also bewusste Trennungen mit möglichst wenig Drama?

(9) Weder Fisch noch Fleisch
DAS WIRTSHAUS ALS LABOR FÜR FUTURE FOOD

Ein heikles Thema, keine Frage. Eine Speisekarte ohne die Klassiker wie Backhendl und Gulasch, das geht eigentlich nicht. Aber es geht auch nicht mehr, der immer größer werdenden Masse an Veganer*innen nur Beilagen anzubieten. Viele Wirtshäuser zeigen bereits bravourös vor, wie sich Klassiker in fleischlose oder gar vegane Varianten aus Regionalem umwandeln lassen.

(10) Body Positivity, Gender und Inklusion
DAS WIRTSHAUS ALS „SAFE SPACE“

Das gehypte Berliner Speiselokal Nobelhart & Schmutzig hat mit seinem Guide of Conduct einen Leitfaden gegen Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung und Diskriminierung entwickelt. „In der Essenz ist der Guide of Conduct also ein Nachschlagewerk für die Art und Weise, wie wir miteinander arbeiten sowie für die Veränderung, die wir in unserer Gesellschaft und Speise- bzw.Konsumkultur bewirken wollen“, steht da geschrieben. Unter anderem geht es darum, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass das Arbeiten in der Gastronomie wieder aufgewertet wird – was angesichts des Fachkräftemangels mehr als nötig ist. Und nicht nur deshalb, sondern überhaupt.

(11) Gegen die Einsamkeit, gegen die Vereinzelung
DAS WIRTSHAUS ALS ORTFÜR BEGEGNUNGEN

Ein Leben in Zufriedenheit ist ohne gelungene Beziehungen schlichtweg nicht möglich. Dennoch ist von der „Pandemie der Einsamkeit“ die Rede, von Vereinzelungstendenzen. Es gibt so viele Singlehaushalte wie nie zuvor, und gleichzeitig wird der Wohnraum teurer und knapper. Allein aus diesem Grund werden Third Places wie das Wirtshaus wie damals, als man der Enge der Wohnungen (oder den dort anwesenden Personen) und der Arbeitsplätze entkommen wollte, zu wichtigen Orten des Socializings. Wie die „Pubs“ („Public Houses“) in England, die „Diners“ in den USA oder die Ramen-Bars in Japan, wo man einfach hingehen kann, ohne sich etwas auszumachen.

(12) Out of the Bubble
DAS WIRTSHAUS ALS MELTING POT

Im Wirtshaus kommen alle zusammen: die Studierenden und die Pensionist*innen, die Angestellten und die Arbeiter*innen, die Chefs und die Selbstständigen, die Tourist*innen und die Einheimischen. In Zeiten von „Bubbles“ und „Cancel Culture“ kann ein Ort, der von ganz unterschiedlichen Menschen belebt wird, äußerst wohltuend sein. In diesem Sinn könnte es in Anlehnung an das oft zitierte Sprichwort „Das Leben beginnt außerhalb deiner Komfortzone“ vielleicht heißen: „Das Leben beginnt außerhalb deiner Bubble.“

(Gruss aus der Küche) Es heißt Wirtshaus, nicht Gasthaus
DAS WIRTSHAUS ALS AUSDRUCK DES CHARAKTERS DES WIRTEN ODER DER WIRTIN

Die andere Seite der Medaille wurde hier bisher außer Acht gelassen, weil dieser Text danach fragt, was das Wirtshaus sein könnte. Aber was die wollen, die es betreiben, ist mindestens genauso wichtig. Der Wirt sucht sich seine Gäste aus, heißt es oft. Man muss nur die Gästebeschimpfung von Albert Ostermaier lesen, um das nicht immer friktionsfreie Verhältnis von Wirt:in und Gast besser zu verstehen. Aber das ist eine andere Geschichte ...